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Über das Hören in unserer lauten Umwelt und die Stille

vom 25.11.2014, Autor: Karsten Schulze

Wie wir als Hörgeräte-Fachleute von unseren Kunden erfahren, wird unser Gehör häufig als zweitrangig im Vergleich zu unserem Augenlicht angesehen. Dies zeigt sich zum Einen in immer wieder gehörten Äußerungen wie „Nicht gut hören können ist ja schon schlimm, aber nicht sehen zu können, muss ja erst richtig furchtbar sein.“, zum Anderen auch in der Zurückhaltung vieler Menschen gegenüber einer regelmäßigen Kontrolle ihres Hörvermögens und gegenüber der zeitnahen Versorgung mit Hörhilfen bei einer längst (manchmal Jahrzehnte zuvor) diagnostizierten Hörminderung.Je stiller wir sind, umso mehr können wir hörenTatsächlich scheint sich also das Hören in unserer modernen westlichen Zivilisation zu etwas mehr und mehr Verzichtbarem hin zu entwickeln. Das ist auf der einen Seite schwer verständlich, da doch das Hören und Verstehen unsere tägliche Kommunikation mit anderen Menschen erst ermöglicht, auf der anderen Seite aber auch insofern nachvollziehbar, als das Hören heute immer weniger etwas ist, für das wir uns freiwillig entscheiden können. Das meiste von dem, was wir heute hören, wird uns durch den technischen Fortschritt und unsere kulturelle Entwicklung von außen aufgezwungen. Wir hören den Lärm des Straßenverkehrs, der uns stört, vielleicht wohnen wir an einer stark befahrenen Straße, viele arbeiten in Lärmbereichen, wir hören an jeder Ecke eine andere Musikberieselung, die wir uns nicht ausgesucht haben, wir werden per Radio, Fernsehen, Internet, beim Einkaufen, in Aufzügen, in öffentlichen Toiletten usw. pausenlos akustischen Eindrücken ausgesetzt und können uns dem Einfluss dieses akustischen Tohuwabohus kaum entziehen. Viele setzen sich sogar freiwillig, z.B. in Konzerten, Diskotheken, auf der Kirmes oder in der Kneipe einem dratischen Dezibel-Beschuss aus, der auch schon mal die Grenze zur Körperverletzung überschreitet. Die Augen können wir vor der optischen Realität verschließen, wenn es uns zu viel wird, die akustische Welt kann man nur mit speziellen Schutzmaßnahmen halbwegs in den Griff kriegen. All dies kann, je nach unserer individuellen Konstitution, nicht nur zu Schäden an unseren empfindlichen Sinnesorganen für die Schallwahrnehmung führen, sondern auch zu einer dauerhaften Stresssituation mit den resultierenden Folgeerkrankungen und letztlich dazu, dass wir eben nicht nur nicht mehr gut hören können, sondern irgendwann vielleicht auch nicht mehr hören wollen.

Zwei Studien, die der Autor Joachim-Ernst Behrendt in seinem Buch „Ich höre – also bin ich“ erwähnt, belegen den Zusammenhang zwischen dem Lebensraum und dem Hörvermögen seiner Bewohner. Die eine stammt von der University of Baltimore, die andere wurde von der Universität Zürich durchgeführt. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass junge Menschen aus unserer westlichen Welt im Alter zwischen 20 und 25 Jahren etwa über das durchschnittliche Hörvermögen 70-jähriger Afrikaner verfügen. Ob diese frühe Hörminderung ausschließlich durch lärmbedingte Schädigungen des Hörorgans zustande kommt oder ob hier nicht auch andere Faktoren wie beispielsweise psychosomatische Effekte (als Schutz vor nervlicher Überlastung) zum Tragen kommen, sei einmal dahingestellt.

Trotz aller Widrigkeiten, mit denen die moderne Welt unsere Ohren konfrontiert, haben wir jedoch die Chance uns unser Hören als hohes Gut unserer Sinneserfahrungen zu bewahren, indem wir achtsam mit unserem Gehör umgehen, es vor übermäßiger Belastung schützen, aber auch dadurch, dass wir uns die Geräusche, Klänge und Stimmen, die uns begegnen und von denen wir täglich umgeben sind, immer wieder neu bewusst machen und sie ruhig auch mal einfach nur genießen.

Es wird sich lohnen, wenn ich mir – sozusagen als alltägliches Hörtraining – zwischendurch mal die Zeit nehme mich an einen ruhigen Ort zu begeben und mich darauf zu konzentrieren, was ich alles in diesem Moment höre und mal die ganze Vielfalt der Geräusche in mich aufnehme: das Ticken der Wanduhr von links, das Rascheln des Papiers, auf dem ich schreibe von vorn, vielleicht ein in weiter Ferne fahrendes Auto, meinen eigenen Atem, die Schritte der Nachbarn über mir, den Akku-Signalton eines Mobiltelefons im Nebenraum, das Summen einer mich umschwirrenden Fliege; all das mal bewusst wahrzunehmen und auch die Schönheit in vielen Klängen und Geräuschen zu entdecken, auch die Bewegungen von Geräuschen in einem akustischen Umfeld (z.B. bei einem Spaziergang) genau zu verfolgen, kann ein erfüllendes Erlebnis sein, das mir zeigt: die ganzen Vielfalt der mich umgebenden Luftdruckschwankungen erfahren zu können ist doch ein großartiges Geschenk, mit dem ich sorgsam und bewusst umgehen sollte, damit es mir lange erhalten bleibt.

Ich besuchte kürzlich ein Konzert, das mich nachhaltig beeindruckt hat. Nicht nur, weil der Klang für heutige Live-Verhältnisse hervorragend war, und wirklich niemand einen Gehörschutz brauchte. Das Publikum wurde eingeladen mitzusingen und darum gebeten nach den musikalischen Darbietungen nicht zu applaudieren, weil die gemeinsame Stille, in der die Klänge erst den Raum bekommen sich im Bewusstsein der Hörer zu entfalten, die größte Wertschätzung sei, die sie für ihre Musik bekommen können. Ich kann nur sagen: das Erlebnis, nach einem Konzert zusammen mit 1300 Menschen minutenlang einfach nur still dazusitzen, ist unbeschreiblich.

Da bleibt als Schlusswort nur die alte chinesische Weisheit: „Je stiller wir sind, umso mehr können wir hören.“

 

karsten-schulzeKarsten Schulze
Hörgeräte-Akustiker im Hörstudio Schirner in Hilden
www.hoerstudio-schirner.de