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Warum können Ohrgeräusche so nervend sein?

vom 21.01.2014, Autor: Brigitte Seefeld

Schätzungen zufolge gibt es weltweit ca. 440 Mio. Tinnitusbetroffene. In Deutschland sind es ca. 3 Mio., davon leiden ca. 1,5 Mio. Menschen mittelschwer bis unerträglich unter den Geräuschen. Aus der Tierwelt wissen wir, dass manche Geräusche als Warnsignale empfunden werden. Sie lösen Angst und entsprechende Aktionen aus, die zum Überleben der Tiere dienen.

Beim Menschen ist das ebenso. Manche Geräusche können Gefühle von Sicherheit oder Vergnügen auslösen. Ein plötzlicher Knall löst Erschrecken aus, Musik kann beruhigen oder stören. Gleiche Geräusche können unterschiedliche Emotionen auslösen, je nachdem wie wir uns fühlen. Hört der Nachbar Musik die uns nicht gefällt, empfinden wir Ärger, machen wir selbst Musik unseres Geschmacks, beruhigt es uns.

Geht man davon aus, dass 15% aller Tinnitusbetroffenen ihr Ohrgeräusch als störend und Angst einflößend empfinden, kann man sich fragen, warum es die restlichen 85% kaum oder gar nicht stört.

Es liegt sicherlich nicht an der Lautstärke des Tinnitus, denn Studien zufolge ist bei beiden Gruppen das Ohrgeräusch annähernd gleich laut, nämlich 5-10dB über der Hörschwelle. Der Unterschied muss also darin liegen, dass diese 15% den Tinnitus als Bedrohung oder Ärgernis bewerten. Sie sind unfähig, sich auf etwas anderes als auf ihr Ohrgeräusch zu konzentrieren. Dies wird vom limbischen System zum Selbsterhalt so gesteuert. Es ist vergleichbar mit dem Tier, das nur noch das Geräusch des nahenden Angreifers wahrnimmt, um zu überleben. Für den Mensch wirkt es aber in dieser Situation ungünstig. Er beklagt den Verlust der Stille.

Wird das Ohrgeräusch erstmalig gehört, ist es für den Informationsspeicher im Gehirn ein neues Signal, für das noch kein Muster vorhanden ist. Das Geräusch wird mit Misstrauen beachtet.

Fixiert sich der Tinnitusbetroffene auf sein Ohrgeräusch, wird ein Kreislauf in Gang gesetzt, der schwer durchbrochen werden kann. Ängste, dass das Ohrgeräusch niemals weggehen wird, lassen es in den Mittelpunkt der Wahrnehmung treten.

Meistens kann der Tinnitus nicht beseitigt werden, aber es wird versucht, den Betroffenen davon zu überzeugen, sein Ohrgeräusch nicht mehr als Bedrohung zu empfinden, sondern es zu tolerieren und als normales Phänomen zu akzeptieren.

Auf dieser Technik basiert die Tinnitus-Retraining-Therapie.

Bei der Tinnitus-Retraining-Therapie arbeiten mehrere Berufsgruppen zusammen. Der HNO-Arzt ist zuständig für die Aufklärung und Beratung des Tinnitusbetroffenen. Der Hörgeräteakustiker übernimmt die apparative Versorgung, und der Psychotherapeut vermittelt Strategien zum leichteren Umgang mit dem Ohrgeräusch.

In vielen Fällen schafft das Wissen über die Entstehung und Auswirkung des Tinnitus im aufklärenden Gespräch schon Erleichterung. Ist dies nicht der Fall, und besonders auch dann, wenn eine zusätzliche Hörminderung vorhanden ist, kommt die apparative Versorgung in Frage.

Es gibt Rauschgeräte, die während der Tragezeit die Wahrnehmung des Tinnitus verringern. Bei einer zusätzlichen Hörminderung ist eine Hörgeräteversorgung angebracht, damit durch die Anhebung der Umweltgeräusche und die verbesserte Sprachwahrnehmung der Tinnitus in den Hintergrund treten kann.

Was für den Einzelnen in Frage kommt, wird in einer intensiven Beratung festgelegt.

Brigitte Seefeld
Hörgeräte-Akustikmeisterin aus Mettingen